Die uralten Heilmethoden verschiedener Naturvölker bieten bewährte Alternativen zur westlichen Schulmedizin. Fachlich kompetent, jedoch unterhaltsam aufbereitet, informiert der Autor über diese unterschiedlichen Heilmethoden sowie über die Traditionen und Werte, mit denen sie verbunden sind. Wirkungsvolle Rezepte, Einführungen in körperorientierte Methoden und Hinweise auf spirituelle Riten, die heilen. Ein Buch, das neue Perspektiven öffnet, mit Krankheit und Gesundheit umzugehen.

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Inhaltsverzeichnis

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Leseprobe

Die Heilungsgeheimnisse der Naturvölker

Heilende Riten und vergessene Heilkräuter

Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein starben Menschen an Erkrankungen wie Fieber oder Durchfall, die aus heutiger Sicht nicht länger lebensbedrohend sind. Mit Hilfe der modernen Medizin ist es auch vielen Menschen möglich, trotz schwerer chronischer Krankheiten ein erträgliches Dasein zu genießen. Verheerende Seuchen wie Tuberkulose, Pest und Pocken konnten eingedämmt werden, Infektionskrankheiten wie Malaria, Grippe und die gefürchtete Hirnhautentzündung sind behandelbar geworden. Lebertransplantationen, Herzklappenersatz und künstliche Gliedmaßen gehören heute zum medizinischen Alltag – die Lebensqualität unzähliger Menschen hat sich dadurch wesentlich verbessert.

Was die Schulmedizin jedoch durch die immer stärkere Spezialisierung verloren hat, ist der Blick für die Gesamtheit, nämlich die Einheit des Menschen als ganzheitlicher Organismus, seine Rolle im Makrokosmos und die mannigfaltigen, oftmals naturwissenschaftlich nicht begreifbaren Einflüsse, die auf ihn einwirken. Das Wissen um diese geheimnisvollen Kräfte besteht in den Traditionen, Riten und Gebräuchen, in der Naturheilkunde der Schamanen aller Kulturen fort.

In diesem Buch machen wir uns auf die Suche nach dem Verlorenen. Sie werden ein ganz neues Verständnis von Gesundheit, Krankheit und der krankmachenden Einflüsse gewinnen. Sie werden lernen, dass man auch mit sehr einfachen Mitteln komplexe Störungen effektiv behandeln kann. Sie werden die in unserem Kulturkreis nahezu gänzlich außer acht gelassenen heilenden Eigenschaften der Elemente wie Erde oder Luft verstehen lernen. Und Sie werden lesen, dass selbst notwendige Mühen, wie Kochen, Waschen und Einkäufen zu heilenden Ritualen werden können, wenn man sie nur mit dem entsprechenden Bewusstsein ausführt.

Zentrale Fragen, denen wir in diesem Buch nachgehen wollen, sind: Wer heilt eigentlich? Wie wird geheilt? Welche Pflanzen werden überall in der Welt und zu welchem Zweck verwendet? Gibt es allgemeine Gebote für eine gesunde Ernährung? Was haben die Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft mit Gesundheit zu tun? Auf welche Weise kann man Symbole einsetzen, um zu genesen? Wie ist es möglich, mit der Seele von Pflanzen Kontakt aufzunehmen?

Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir versucht, in jedem Kapitel kulturübergreifende Heilungsprinzipien herauszuarbeiten. Eins aber gleich vorweg: Dieses Buch ist nicht als Alternative, sondern als Erweiterung zu den Errungenschaften der modernen Medizin gedacht. Daher sind die Rezepte und Ratschläge auch nicht als Ersatz für einen Arztbesuch oder die Beratung durch einen professionellen Heilkundigen anzusehen.

Das Ziel dieses Buches ist vielmehr, unser begrenztes Verständnis der Zusammenhänge von Gesundheit zu erweitern und über den gewohnten Tellerrand hinauszudenken. Bei seiner Lektüre unternehmen Sie eine Reise um die ganze Welt. Sie werden staunen, wie die Medizinmänner ferner Länder es mit teils abenteuerlichen Methoden schaffen, den Menschen zu heilen.

Und wer weiß, vielleicht werden auch Sie am Ende der Lektüre dieses Buches wieder fähig sein, den Pflanzen zu lauschen und den feuchten Boden unter den Füßen zu spüren … 

Was macht krank?

Ich, der junge Holzspecht, habe Krankheit herbeigebracht.

Aus einem Beschwörungsgesang der Klamath-Indianer

Was macht krank? Diese drei Worte bergen eines der größten Rätsel der Menschheit. Die gängige Antwort aus westlicher Sicht auf diese Frage lautet: alle Arten von Erregern, Psychodynamiken, Unfälle, Einflüsse von chemischen Substanzen und anderen Giftstoffen. Im Anschluss daran muss man aber die nächste Frage stellen: Warum erkrankt der eine Mensch und der andere nicht? Wieso überlebt der eine Krebspatient seine Krankheit und der andere nicht? Warum entwickelt der eine Mensch eine Autoimmunkrankheit, der andere aber nicht? 

Das liegt am Immunsystem, möchte man darauf vielleicht antworten. Aber warum ist das Immunsystem des einen Menschen widerstandsfähiger als das eines anderen? Weil er sich besser ernährt hat? Und was ist bessere Ernährung? Gibt es doch Menschen, die von Hamburgern und Chips leben und trotzdem scheinbar gesund sind, während andere Müsli essen, frisches Obst und Gemüse aus biologisch kontrolliertem Anbau und dennoch ständig unter Krankheiten leiden.

Sie sehen, mit jeder Antwort stellen sich neue Fragen. Diese Fragen waren es, die uns neugierig darauf machten, welchen Ursachen die Naturvölker Krankheiten zuschreiben.

Was bezeichnen Naturvölker als Krankheit?

Für den modernen westlichen Menschen ist Krankheit etwas, was gegen ihn gerichtet ist, was nicht natürlich ist, etwas, das ihn aus der Bahn wirft, von seinem Ziel abbringt, sein Leben stört und das man deswegen bekämpfen muss. Er selbst hat mit seiner Krankheit scheinbar wenig, wenn überhaupt etwas zu tun.

Die Naturvölker hingegen begegnen der Krankheit als einem natürlichen und damit notwendigen Teil des Lebens. Die Natur mit all ihren Erscheinungen ist ihnen so vertraut, dass jegliche Ereignisse als Teil der natürlichen Ordnung angesehen werden. Krankheiten und Störungen, die im Leben eines Menschen auftauchen, werden als Hinweis betrachtet, dass der Kranke durch sein Denken oder Handeln diese Ordnung verletzt hat. Die Krankheit ist die Konsequenz davon, so wie das Hinfallen nach dem Stolpern kommt.

Wenn Körper, Geist oder Gemüt Symptome zeigen, die vom Gesunden abweichen, sind bestimmte Kräfte aus dem Gleichgewicht geraten. Balance ist der Schlüssel zur Gesundheit. Dieser Annahme begegnen wir in vielen Kulturen:

Aus Sicht der Afroamerikaner, deren Volksmedizin »Root-Work« oder »Root-Medicine« (Wurzel-Arbeit oder Wurzel-Medizin) genannt wird, entsteht Krankheit, wenn man das Gleichgewicht zwischen Gott und Teufel, den beiden konkurrierenden Mächten, nicht aufrechterhält. Missachtet man seinen Körper, gerät er außer Balance, und der »Geschmack« seines Blutes wird zu süß oder zu bitter, es wird zu dick oder zu dünn, es wird schmutzig oder ranzig. Dann ist im wahrsten Sinne des Wortes »der Teufel los«. Für die Yoruba ist Mäßigung der Schlüssel zur Gesundheit. Übermaß beim Essen, Sex, Trinken, beim Handeln oder in Gedanken bringen das naturgegebene Gleichgewicht durcheinander.

Die wahrscheinlich geläufigste Anschauung der natürlichen Balance ist die chinesische Lehre von Yin und Yang. Alles Lebendige wird von diesen beiden Energien aufrechterhalten: von Yin, der bewahrenden, weiblichen Erdkraft, und Yang, der bewegenden, männlichen Himmelskraft. Solange sich diese beiden Energien gleichwertig gegenüberstehen, herrscht Ausgeglichenheit und damit Gesundheit; gewinnt eine davon die Oberhand, entsteht Krankheit. Letztlich geht es bei der Heilung also darum, die verlorene Balance wiederzuerlangen.

Krankheit hat viele Gesichter

Naturvölker kennen eine Vielfalt von Krankheitsursachen. Wichtige Faktoren sind unter anderem: das persönliche Verhalten, die Entstehungsmythologie des Stammes, Genealogie, Glaube, das Pantheon der Götter, offensichtliche und weniger offensichtliche Naturereignisse. Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch, einem großen Bild einen kleinen Rahmen zu geben.

Dämonen und Geister

Die größten Gruppen von Krankheitsverursachern sind Geister und Dämonen, Teufel und Kobolde. Sie belästigen den Betroffenen, überfallen, attackieren, beißen ihn und schlagen ihn nieder. Im nächsthöheren Krankheitsstadium nehmen sie den Betroffenen vollständig in Besitz. Die bösen Geister fahren in den Körper hinein und werden sozusagen zur Krankheit.

Die Karya-Indianer Brasiliens und verschiedene Stämme in Neuguinea glauben an diese Art der Besessenheit von Kranken. Sie betrachten jede Krankheit, egal wie schwach oder stark ausgeprägt, als einen Überfall durch fremde Wesen.

Stämme wie die Singhalesen auf Ceylon sprechen einzelnen Dämonen bestimmte Symptome zu. Sie kennen zum Beispiel einen Dämon, der Blindheit, einen, der Taubheit verursacht, und andere, die einseitige Lähmung oder Fieber auslösen.

In Siam, dem heutigen Thailand, glaubte man, die Krankheitsdämonen, genannt Phi Du, lebten in Wäldern und lauerten den Menschen auf. Sie fielen aus Bäumen über sie her und erzeugten so Malaria. Die Phi Disat oder Dreckdämonen dagegen legten unsichtbare Netze aus. Wer hineingeriet, wurde von einer schweren Krankheit heimgesucht.

Die südaustralischen Aborigines glauben, dass manche Dämonen ganz gezielt bestimmte Körperteile angreifen. Dabei nehmen diese Dämonen menschliche Gestalt an und schlagen auf Genick, Arme oder Beine.

Die Azteken bezeichneten eine bestimmte Art von Dämonen als Wadenfresser, weil sie aus Hass und Habgier die Waden attackieren. Die Harari Zentralafrikas sehen im Hexenschuss einen Anschlag des Teufels auf den unteren Bereich des Rückens.

Die Geister Verstorbener

Eine weitere Krankheitsursache sind die Seelen unglücklich Verstorbener. Gelingt es einer dieser Seelen, in einen lebenden menschlichen Körper zu schlüpfen, wird dieser aus dem Gleichgewicht gebracht: Der Mensch wird krank. Erst wenn die Seele des Toten aus dem Körper des Kranken wieder vertrieben ist, kann dieser genesen.

Diese Vorstellung ist selbst unserem Kulturkreis nicht fremd. Bis ins letzte Jahrhundert hinein praktizierte die katholische Kirche Exorzismus, das Austreiben von Hexen und Teufeln.

In Papua-Neuguinea dürfen frisch verwitwete Frauen das Haus nicht verlassen, weil der Geist ihres Ehemanns möglicherweise noch an ihnen haftet und er auf andere Menschen überspringen und von diesen Besitz ergreifen könnte.

In vielen Teilen der Welt glaubt man, dass die Seelen früh verstorbener Jungfrauen für Kinder ganz besonders gefährlich sind, weil sie aus purer Eifersucht die Kinder glücklicher Mütter überfallen, um sie umzubringen.

In Siam gab es die Phi-Tai-Hong-Dämonen, Seelen von Gehängten oder plötzlich Verstorbenen. Sie verursachten schwerste Krankheiten und Unheil.

Tiere im Körper

In vielen Kulturen nehmen böse Geister Tiergestalt an und fahren so in den Körper ein. Von Reptilien, Vögeln und Insekten wird berichtet. Schlangen und Würmer kommen jedoch am häufigsten vor. Dass Tiere eine besondere Rolle in den Vorstellungen der Naturvölker spielen, ist leicht nachzuvollziehen, reflektiert dies doch ihren Glauben daran, dass alle Wesen am ewigen Zusammenspiel der Natur teilnehmen.

Dabei haben die verschiedenen Charaktere der Tiere ihre Parallele in assoziativ entsprechenden Krankheitssymptomen. Flüchtige, stechende Schmerzen werden von manchen Völkern zum Beispiel den Bienen zugeordnet, der reißende Schmerz dem Schlag eines Bärs, degenerative Prozesse den Würmern usw.

Die Sioux-Indianer Amerikas, die Harari Afrikas und einige Stämme in Sumatra bringen die meisten Krankheiten mit einem hungrigen Wurm in Zusammenhang. Für die Karok-Indianer Nordkaliforniens steckt das Treiben eines Froschs hinter vielen Krankheiten, die Dakota-Indianer glauben an eine Schildkröte als Krankheitsursache. Ihrer Ansicht nach können aber auch Tiere, die sehr viel größer sind als der Mensch, Krankheit in ihm verursachen, zum Beispiel der Hirsch oder der Bär. Ein Lied der Klamath Oregons lautet:

Die von mir, der Lerche, gebrachte Krankheit breitet sich überall aus.

Für die Klamath sind also diese Vögel die Bringer des Unheils.

Körperfremde Substanzen

Neben allerlei Wesen können auch körperfremde Substanzen Krankheiten verursachen. Die »Waffen des Bösen« sind zum Beispiel Steine oder Holzstücke. Sie gelten jedoch nur als Symbole, es wird angenommen, dass sie sich also nicht tatsächlich im Körper des Kranken befinden.

Für einige südpazifische Stämme und australische Aborigines haben Strohhalme oder Holzstücke diese Bedeutung. Südaustralische Völker glauben an Kohlestückchen. Für Völker, die am Wasser leben, wie die Maori in Neuseeland, sind Muscheln ein Sinnbild von Krankheiten. Ein Großteil der nordamerikanischen Indianerstämme glaubt an Tierteile, wie Bärenkrallen, Stacheln oder gar Stücke vom Fell verschiedener Nage- und Säugetiere. Auch Bohnen, Knochenstücke und Fischgräten können unterschiedliche Beschwerden und Krankheiten auslösen.

Diese Naturvölker heilen Krankheiten dieser Art, indem sie das krankheitsverursachende Objekt besprechen und so die bösen Kräfte in ihm in gute umwandeln. Dann wird es dort am Körper des Kranken angebracht, wo der Krankheitsauslöser vermutet wird. Dieses Ritual erinnert erstaunlicherweise sehr an die Homöopathie, die vor gut 200 Jahren von dem deutschen Arzt Samuel Hahnemann entdeckt wurde. Ihr Prinzip lautet: »Similia similibus curentur«, zu deutsch: »Ähnliches werde durch Ähnliches geheilt«. So geben die Medizinmänner der Klamath-Indianer den Betroffenen Amulette, die die krankheitverursachende Substanz enthalten, um zu heilen.

Böse Winde und Regenstürme

Auch das Wetter und bestimmte Naturereignisse können Krankheiten auslösen. Dieser Gedanke ist uns nicht fremd. Fast täglich beschweren wir uns über das Wetter. Einmal ist es uns zu kalt, dann wieder zu feucht oder zu heiß. Das Wetter ist eine einfache Erklärung für unser Unwohlsein. Wir sind dazu jedoch nicht fähig, durch Riten oder Anrufungen diese Beschwerden zu vertreiben.

Für die Naturvölker sind sowohl das Wetter als auch die Elemente Energie in Form einer Gestalt, etwas, das Krankheit, aber auch Heilung mit sich bringen kann. In vielen Teilen der Erde betrachtet man böse Winde als Ursachen für Unheil oder den Ausbruch einer Krankheit. Je nach ihrer Herkunft, ob sie aus den Bergen, von den Seen oder Meeren oder aus den Prärien kommen, haben diese Winde verschiedene personifizierte Eigenschaften und verbreiten ihre entsprechende Krankheiten.

Die Menschen des nördlichen Peru kennen strömende Winde. Sie sind kalt und bringen dementsprechend Erkältung und andere kleinere Wehwehchen mit sich. Die heißen Winde, die von den Ruinen und damit von den Körpern der Ahnen herüber wehen, verursachen dagegen schwere Krankheiten.

In Kambodscha muss man aufpassen, dass man den Wind nicht beleidigt, weil man sonst von ihm mit Schwellungen und Geschwüren bestraft wird.

Die Beschwörungen und Gesänge der nordamerikanischen Medizinmänner, wie die der Klamath-Indianer Oregons, zeigen, wie sehr sie Krankheit mit den Naturgewalten identifizieren:

Die von mir hervorgerufene Krankheit ist angekommen.

Ich bin der Sturm und der Wind, dies ist mein Gesang.

Die gerechte Strafe

Gebote oder Tabus haben die Funktion von lebensregelnden Grenzen. Sie geben dem gesellschaftlichen Leben einen Rahmen und unterscheiden den Menschen von den Göttern. Das Überschreiten dieser Grenzen verursacht Krankheit. Die Liste der möglichen Bestrafungen ist sehr lang. Jeder Stamm kennt seine ureigensten Tabus.

Die Maya-Völker Zentralamerikas sahen eine Krankheit als die natürliche Strafe für ein nicht eingestandenes Verbrechen an. Die Azteken glaubten, dass geschlechtliche Ausschweifungen mit Durchfällen oder Beschwerden beim Wasserlassen bestraft werden. Ein unmäßiger Umgang mit den Geschenken der Natur, der übermäßige Genuss von Nahrung oder Wein, ist bei den Yoruba in Nigeria Anlass für die Götter, den Menschen mit Krankheit zu strafen. Stämme auf Sumatra glauben von Magenschmerzen und Durchfall heimgesucht zu werden, wenn sie Früchte stehlen.

Die am häufigsten durch Krankheit bestraften Handlungen sind bei den Naturvölkern jedoch Blutschande oder Inzest, der Umgang mit Frauen während der Menstruation, das Essen oder Stehlen verbotener Früchte und Meineid.

Bestrafung als Krankheitsursache, dieses Konzept finden wir auch in unserem Kulturkreis wieder. Die Bibel ist voll davon. Denken Sie nur an die Plagen der Ägypter oder den armen Hiob.

»Natürliche« Auslöser

Letztlich gibt es auch Krankheitsursachen, die nicht als Folgen übernatürlichen Wirkens betrachtet werden, sondern als Naturgeschehnisse, die das Leben des Menschen beeinträchtigen. Dazu gehören Naturkatastrophen, Unwetter, Unfälle, das Essen von verdorbener Nahrung usw.

Die Ureinwohner auf Rarotonga, einer der Cook-Inseln im Südpazifik, nennen »echte« Krankheiten malti tiki, so zum Beispiel, wenn man sich erkältet, nachdem man im Regen gestanden hat, oder wenn man Bauchweh bekommt, nachdem man etwas Verdorbenes gegessen hat. Die Naturvölker der Insel Nanumea, eine Insel des Inselstaates Tuvalu im Südpazifik, erachten Krankheiten wie Husten, leichten Durchfall, Magen- und Kopfweh als nicht behandlungsbedürftig. Sie kategorisieren diese als leichte, naturbedingte Störungen, die auch von alleine wieder verschwinden. Auf den Seranglao- und Gorong-Inseln im ostmalaiischen Archipel gilt Überanstrengung als eine Krankheitsursache, die sogar Lepra hervorrufen kann.

Die heilende Rolle der Medizinmänner und Schamanen

So sind denn … in den Kräutern und Blumen und Bäumen verborgene Geheimnisse Gottes, die kein Mensch wissen und spüren kann, es sei ihm denn von Gott eingegeben.

Hildegard von Bingen

Bevor wir uns in die Vielfalt der Behandlungsmöglichkeiten vertiefen, wollen wir einen Blick auf die Hauptakteure von Heilung und Erhalt der Gesundheit werfen. Wer heilt, wie wird geheilt und welche Rolle spielen die Heiler im Leben der Naturvölker?

Die Geschichte der Medizinmänner und Schamanen ist fast so alt wie die Geschichte der Menschheit selbst. Schon die Höhlengemälde der Urmenschen bezeugen ihren hohen Rang in der Gemeinschaft. Auch die Hieroglyphen der alten Ägypter sowie die Volkskunst Afrikas, Amerikas und des Südpazifiks geben Hinweise auf die besondere Rolle der Heilkundigen.

Die Aufgaben der Heiler

Die Heiler der Naturvölker nennt man Schamanen oder Medizinmänner. Ihre Aufgabe umfasst jedoch meist wesentlich mehr Tätigkeiten, als »nur« Kranke zu heilen. Heiler haben immer eine prominente Position innerhalb ihrer Gemeinschaft, weil sie fähig sind, die übernatürliche Welt der Geister und Dämonen, Feen und Gnomen, Pflanzengeister und Meerjungfrauen mit der Erde zu verbinden. Im Fall einer Erkrankung können sie so die »Versöhnung« einleiten und die heilenden Impulse aktivieren.

Magie und Heilen: die Zauberkünstler der Karibik

Die Heilkunst des Voodoo oder Hoodoo kommt ursprünglich von der Insel Haiti, wird jedoch auch von afroamerikanischen, in Louisiana, Georgia und Mississippi lebenden Vereinigungen praktiziert. Die Wurzeln gehen auf verschiedene afrikanische Traditionen zurück, die, von den Sklaven mitgebracht, sich im Laufe der Jahrhunderte mit dem französischen Katholizismus vermischten.

Der Zombi wird als die heilige Schlange verehrt, der Hauptgottheit der Erde. Sie repräsentiert die Macht Vodus. In dieser Tradition heilen und orakeln Frauen. Sie sind Priesterinnen und Seherinnen zugleich. Ihnen offenbaren die Gottheiten ihre Pläne und ihr geheimes (Heil-)Wissen. Wenn eine Priesterin in Trance verfällt, kann sie böse, krankmachende Einflüsse beschwören oder bannen.

Auf Trinidad existiert der Shango-Kult, der auf nigerianische Wurzeln zurückgeht. Shano ist der Gott des Blitzes und des Donners. Der Amombah ist der Shangopriester, der sich mit Hilfe Shanos auf die Krankheit konzentriert und die bösen Einflüsse abwendet.

Auf Kuba und Puerto Rico wird der Santeria-Kult gepflegt, eine Mischung aus den Gebräuchen der Yoruba (Benin, Nigeria) und dem Katholizismus. Hier gibt es männliche (Santero) und weibliche (Santera) Heiler, die krankmachende, böse Mächte mit Hilfe von Zauber und Magie zähmen können.

Die Diagnose

Der Medizinmann gibt der Krankheit einen Namen und benennt ihre Ursache. Durch diese Diagnose wird der diffuse Schmerz oder das allgemeine Unwohlsein konkretisiert: Die Krankheit hat eine Ursache, die behandelt werden kann. Manchmal genügt allein schon die Diagnose, um den Menschen zu heilen.

Peru: die Diagnose als Heilung

Einige Naturvölker haben spezielle Verfahren entwickelt, welche die Diagnostik mit der Behandlung verbinden. So gibt es in Nordperu die sogenannte »Limpia del huevo« – die Reinigung mit dem Ei. In einer Zeremonie beschreibt der Heiler oder Medizinmann mit einem Ei Kreise um Kopf, Rumpf, Arme und Beine des Kranken. Danach wird das Ei aufgeschlagen und in Wasser gegeben. Der Heiler kann aus der Struktur des flüssigen Eis die Krankheitsursache erkennen, die auf dieses übertragen worden ist. Danach wird es entsorgt, und die Krankheit verschwindet.

Nach ähnlichem Prinzip erfolgt die Heilung und Diagnose mit einem Meerschweinchen. Nach der Reinigungszeremonie wird das Tier geschlachtet, und seine Organe werden vom Heiler untersucht. Er stellt die Diagnose. Danach beseitigt er die Tierleiche in einer Zeremonie, und die Krankheit verschwindet.

Das Umfeld des Kranken – die Vermittlungstätigkeit des Schamanen

Die Menschen innerhalb eines Stammes leben sehr viel enger zusammen als vergleichsweise unsere Gesellschaft. Daher kommt jedem Mitglied im Stammesverbund eine besondere Aufgabe zu. Wenn es wegen Krankheit ausfällt, bedeutet dies eine Belastung für die gesamte Gemeinschaft. Die Harmonie ist gestört, die Kontinuität, manchmal sogar das Überleben des Stammes bedroht. Der Heiler versetzt den Kranken zurück in sein ursprüngliches Gleichgewicht und damit an seinen Platz in der Gemeinschaft. Bis dies gelungen ist, besteht seine Aufgabe darin, zwischen dem Leidenden und der Gemeinschaft zu vermitteln.

Arzt, Schamane, Krankenhaus

Die Schamanen und Medizinmänner von heute wissen um die Existenz der modernen Schulmedizin. Auch wenn einige aus verständlichen Gründen an ihrer Tradition festhalten, öffnen sich doch viele den Möglichkeiten, die sich dadurch erschließen. Im Notfall, oder wenn die herkömmliche Heilkunde nicht mehr »funktioniert«, sucht man Rat bei Ärzten und in Krankenhäusern.

So beschäftigen sich zum Beispiel die Leibärzte des Dalai Lama, dem spirituellen Oberhaupt Tibets, das in Indien in der Verbannung lebt, mit der »modernen« Medizin. Großes Interesse und Bewunderung werden vor allem den Antibiotika und anderen Medikamenten entgegengebracht, die bei Tuberkulose und parasitärem Befall schnelle Abhilfe schaffen. Die traditionellen Heiler Tibets betrachten das medizinische Gedankengut des Westens nicht als ihren Vorstellungen widersprechend. Der Dalai Lama sieht darin einen Gewinn für sein Volk und für die ganze Menschheit.

Auf der andere Seite interessieren sich Ärzte und Wissenschaftler im Westen immer mehr für die Heilkunde der Naturvölker. So ergänzen die Erkenntnisse des einen das Wissen des anderen, und die Menschheit profitiert davon.

Ein Vorbild für die Gemeinde

Der Heiler ist das wichtigste Mitglied der Gemeinde, deshalb steht er im Zentrum des allgemeinen Interesses. Er setzt Maßstäbe. Durch seine Weitsicht und sein Verhalten zeigt er, welche Gedanken und Verhaltensweisen tabu sind. Er gibt einen Rahmen vor, der klarmacht, wie man sich benehmen muss, um Krankheiten vorzubeugen; sein Wissen um die komplexen Ursachen und Zusammenhänge von Gesundheit und Krankheit machen ihn zu einer Schlüsselperson in der Gemeinschaft.

In fast allen Naturkulturen dankt man dem Heiler mit Geschenken. Meist, und das gehört zum Ritual, lehnen sie diese jedoch aus Demut ab, weil die Gabe der Heilkunst, so denkt man zum Beispiel in Tibet, ein Werkzeug Gottes ist. Geschenke würden sie entweihen.

Der tohunga der Maori

Die Ureinwohner Neuseelands, die Maori, nennen ihren Priester-Heiler tohunga. Seine Aufgabe ist es, aufgebrachte Geister zu beruhigen. Er besitzt die seherische Kraft, in die unsichtbare Welt zu blicken, und kann so feststellen, welcher atua (Geist) verstimmt ist. Der tohunga stellt die Diagnose. Mit Hilfe seiner besonderen, übernatürlichen Fähigkeiten stellt er die Verbindung zwischen atua und Patient her, »verschreibt« beziehungsweise verabreicht entsprechende Heilmittel und versucht gemeinsam mit dem Patienten, den verstimmten Geist wieder zu besänftigen. Der tohunga hat viele Funktionen: Wörtlich übersetzt ist er der Experte, der Priester und der weise Mann, aber auch der, der in die unsichtbare Welt schauen und mit den Geistern kommunizieren kann. Er ist ein Vermittler zwischen Himmel und Erde, zwischen Gesellschaft und Religion, zwischen dem Innen und Außen des Menschen.

Der Heiler als Lehrer

Der Heilkundige hat nicht nur die Funktion eines Vorbilds, sondern er ist vor allem auch der Bewahrer von geheimen Traditionen. Manchmal gibt es Zeichen bei der Geburt oder im späteren Leben, die auf die Berufung zum Medizinmann hindeuten.

Die whare wanangas der Maori

Die tohungas, die heilkundigen Lehrer der neuseeländischen Maori, unterrichten in Schulen, den sogenannten whare wananga (etwa: »Haus des Lernens«). Dort bekommen die Schüler nicht nur medizinisches Wissen, sondern auch ethische und mystische Zusammenhänge vermittelt. Sie lernen, was gut und was böse ist, und erfahren von der Entstehung aller Dinge im Himmel und auf Erden. Die Zulassung zu diesen whare wanangas unterliegt strengen Regeln. Um auf diese Schulen zu gelangen, müssen die Anwärter in der Erbfolge stehen. Sie durchlaufen eine lange, harte Ausbildung, bei der nur die Intelligentesten eine Chance haben.

Der Schüler lernt alle Krankheiten und ihre vielfältigen Ursachen kennen. Er lernt für jede Verstimmung den speziellen karakia (Zauberspruch) und die Heilwirkung aller Pflanzen und Elemente. Die Maori unterscheiden nicht zwischen greifbaren und spirituellen Heilsubstanzen. Der tohunga muss auch wissen, welches Mittel in welcher Dosierung den Zauberspruch bei welcher Störung am besten unterstützt. Dazu bedarf es einer speziellen Kenntnis der Elemente, der Muscheln, der Steine, der Blumen, der Blätter, der Hölzer, der Federn und vielem anderen.

Selbstheilungskräfte aktivieren und vorbeugen

Eine der wichtigsten Aufgaben des Medizinmannes ist es, die Selbstheilungskräfte des Patienten zu aktivieren. Damit sind jene unerschöpflichen Energien und Mechanismen gemeint, die uns dazu befähigen, Krankheiten aller Art zu überwinden. Zu den Selbstheilungkräften zählen sowohl das körperliche Immunsystem als auch die diversen Kraftübertragungen, Visualisationstechniken, Meditationsmethoden, Riten und Anbetungen.

  • Der Heiler ist nur die motivierende Kraft, die Figur außerhalb, die dem kranken Menschen den Weg zur Genesung weist. Beschreiten muss der Kranke diesen Weg allerdings selbst.
  • Der Heiler ist das Bindeglied zwischen Mensch und Gottheit. Schon sein bloßes Erscheinen gibt die ersten wirkungsvollen Impulse: der Respekt, den man ihm entgegenbringt, und die Ehrfurcht, die man gegenüber seinem Wissen und seiner Fähigkeit zu diagnostizieren empfindet, fördern das Vertrauen. Seine Beschwörungen, Zeremonien, der Heilmittel und Amulette verleihen Kraft.
  • Die Heiler beseitigen jedoch nicht nur Krankheiten. In täglichen Zeremonien und Riten beugen sie dem krankmachenden Ungleichgewicht vor und gewährleisten so die innere und äußere Ordnung des Stammes oder der Gemeinschaft.

Gesundheit heißt, die Naturgesetze zu achten. Der Heiler ist der Übersetzer, Überbringer und Hüter dieser Gesetze. Er zeigt den Weg des Gleichgewichts und des Maßes.

Heilen auf Samoa: rundherum versorgt

Um den Menschen optimal in der Selbstheilung zu unterstützen, haben so manche Völker die Rolle der Medizinmänner aufgeteilt. In Samoa zum Beispiel gibt es Spezialisten für die verschiedenen Bereiche des Wohlbefindens. Die taula-aitu, übersetzt »Anker des Geistes«, sind Priester-Heiler mit vielfältigen Aufgaben:

Der taula-aitu-o-aiga ist der Priester der Familien. Er ist ein Medium, das in der Lage ist, mit den Göttern der Familien zu kommunizieren. Sie werden von ihm aufgefordert, Hilfe zu leisten und die Heilung einzuleiten. Innerhalb jeder Großfamilie gibt es einen designierten taula-aitu-o-aiga.

Der taula-aitu-vavalo-ma-fai-tu’i ist der »Anker der Geister, die vorhersagen und fluchen«. Diese Priester-Heiler sind fähig, dämonische Menschen zu erkennen, die durch schwarze Magie Unheil verursachen. Sie sprechen wirksame Beschwörungen aus, die die bösen Kräfte vertreiben.

Die fo-ma’i verabreichen Heilkräuter und führen mit diversen Massagetechniken sowie Handauflegen den Kranken wieder zum ausgeglichenen Zustand der Gesundheit zurück. Die Kinder von Samoa werden von klein auf darin unterrichtet, wie man Heilkräuter sammelt. So lernen sie die Prinzipien und Geheimnisse der Naturheilkunde kennen und können ein Leben lang davon profitieren.

Ähnliche Heilmethoden wie die Priester-Heiler Samoas pflegen die Cuiandeios (spanisch: curar = heilen) in den USA. Sie haben afrikanische und mexikanische Wurzeln, auf die sie sich auch in ihrer Heilkunst besinnen. Die Curanderos selbst bezeichnen sich als Gotteshelfer. Ihre besondere Begabung wurde ihnen in Träumen offenbart. Die Curanderos unterscheiden sich nochmal in ihren Kompetenzbereichen: Die Sobando massieren, die Yerberos verfügen über das Wissen um den Einsatz von Heilpflanzen, und die Senoras können das Schicksal aus den Karten lesen.

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